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Uwe Timm Am Beispiel meines Bruder 6 bis S.61

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The speaker recounts their experiences during the war, how their family sought refuge in a bomb shelter and witnessed the destruction of their home and the city. They mention the prohibition for Jews to enter the shelter. The speaker also describes visiting a former bomb shelter turned into a house after the war and the memories it brought back. They talk about damaged porcelain figures that were saved from the fire, as well as surviving Christmas ornaments. The speaker reflects on their dislike for their father's trade as a furrier and their own passion for writing and reading. The father also disliked his job and found a sewing machine in the ruins, which led him to become a tailor. Nach Jahren auf dem Krieg, mich durch meine Kindheit begleitend, wurden diese Erlebnisse immer und immer wieder erzählt. Dass das ursprüngliche Entsetzen langsam abschliff, das Erlebte fassbar und schließlich unterhaltend machte. Wie die ältere Schwester und der Vater erst die Habsinnigkeiten aus der Mitte der Straße gestellt hatten, sie dann das Kind, mich, in die Kinderkarre gelegt und mit Handtüchern zugedeckt hatten. Handtücher, die sie an einem geplatzten Wasserrohr angefeuchtet hatten. Wie die Eltern und die Schwester die wenigen geretteten Sachen auf der Straße stehen lassen, die Osterstraße hinunter Richtung Schulweg gelaufen waren. Wie rechts und links die brennenden Häuser, besonders die rechte Straßenseite brannte, bis hin zum Lastruppweg brennende Häuser. Wie sie in den überfüllten Luftschutzkeller geflüchtet waren, wo die Menschen saßen, sonderbar gefasst. Wie der Vater sich noch in derselben Nacht bei einem Luftwaffenstab gemeldet hatte und wie sie ihn dann nach den zwei Tagen, an denen abermals Angriffe geflogen worden waren, bei Verwandten wieder getroffen hatten. Unrasiert, übernächtigt, in seiner verdreckten, weißen Sommeruniform. Was er und die anderen erzählten. Menschen, die in den Kellern der ausgebrannten Häuser an Wasserleitungen geklammert gefunden wurden und am ersten Luftzug zu Staub zerfielen. Andere waren hinausgelaufen und vom Feuersturm erfasst. In die brennenden Viertel hineingerissen worden, wiederum andere waren mit brennenden Kleidern in Kanäle gesprungen. Phosphor, aber brannte auch auf dem Wasser. Der Luftschutzkeller, in dem meine Mutter mit meiner Schwester und mir gelaufen war, lag an der Ecke zum Schulweg, in dem Haus des Lederwarengeschäfts Israel. Das Geschäft existiert noch heute. 1938, erzählte meine Mutter, hingen große Schilder an den Schaufensterscheiben. Achtung! Trotz des Namens, der Besitzer ist Rhein Arisch, ihr Leder Israel. Auch das ist eines der frühen Bilder. Die Menschen in dem Luftschutzraum. Ein alter Mann weint. Eine Frau hält auf dem Schoß einen Vogelbauer, in dem ein Vogel aufgeregt hin und her springt. Ein anderer Vogel liegt am Boden des Bauers auf dem Rücken, als wäre er eben von der Schaukel gefallen. Brief des Bruders an den Vater. 17.08.1943 Heute Morgen kam nun der Brief, und ich kann es gar nicht fassen, dass 80% von Hamburg Kind sein sollen. Mir standen trotzdem, man sehr hart geworden ist, die Tränen in den Augen. Weil auch das Heim, Zuhause, das woran man halt Freude und Erinnerung hatte, und dieser unersetzliche Schatz soll hin, soll weg, vernichtet sein? Juden war das Betreten des Luftschutzraums verboten. Wir haben hier einen Luftschutzbunker angesehen, aus dem nach dem Krieg ein Einfamilienhaus gebaut worden war. Freunde hatten es gekauft. Der Abstieg war wie ein Rückstieg in die Kindheit. Das feuchte, beengende, röhrenhafte, labyrinthische, denn der Bunker war durch Stützwände unterteilt. Verrostete Entlüftungsrohre hingen an der Wand entlang. Ausschriften, Rauchen verboten, Gasschleuse. Ein ganz eigentümlicher Abstieg, der abgesunkene Bilder mir vor die Augen brachte. Das überraschende war, als das Licht ausging, leuchteten hell die weißen Wände. Noch immer, 60 Jahre nach dem Krieg, leuchteten die mit Phosphorfarbe gestrichenen Wände. Und erst langsam, in der Nacht, verloren sie ihre Leuchtkraft. Beide Biedermeier Porzellanfiguren, die vom Vater oder der Schwester aus dem brennenden Haus gerettet wurden, sind leicht beschädigt. Der eine, eine Schäferin mit einem Blumenkorb am Arm, geht an der Hand. Die andere stellt eine kleine Szene dar. Zwei Frauen in Biedermeierkleidern sitzen und lauschen einem Mann, der stehend vorliest. In der linken hält er das Buch, in der rechten holt er unterstreichend aus. Das Buch wurde ihm aus der Hand geschlagen. Auch die Finger der rechten Hand fehlen. In der Nachkriegszeit standen diese invaliden Figuren auf dem Bücherschrank. Denkmäler dessen, was die Eltern im Krieg verloren hatten. Unbeschädigt hingegen, und es wurde immer wieder als ein Kuriosum erzählt, waren die Christbaumkugeln geblieben, die in einer Schachtel von der Schwester aus dem brennenden, einstürzenden Haus getragen worden waren. Es eigentlich war, wie der Schock, der Schreck, das Entsetzen durch das wiederholte Erzählen langsam fassig wurde. Wie das Erlebte langsam in seinen Sprachformeln verblasste. Hamburg in Schutt und Asche. Statt ein Flammenmeer. Der Feuersturm. Späthaft 1943 wurden wir, meine Mutter und ich, nach Coburg zu Verwandten evakuiert. Der Bruder hatte Kirchner gelernt. Er war gern Kirchner gewesen, erzählte die Mutter. Auch das Tagebuch bestätigt das. Es finden sich darin einige Zeichnungen, die unter anderem, rührend hilflos, den Entwurf für die Schaufensterdekoration eines Feldgeschäftes zeigen. Das war das Erstaunliche. Er mochte offensichtlich den Beruf. Im Gegensatz zu mir, der auch Kirchner gelernt und ebenfalls mit der Gesellenprüfung abgeschlossen hatte, aber nur eines im Sinn hatte, etwas anderes zu tun, schreiben, lesen. Ja, schon damals war es eine Schreibsucht, eine Lesesucht. Und auf keinen Fall wollte ich die Kirchnerei vom Vater übernehmen. Der Beruf langweilte mich. Nachdem ich alles gelernt hatte, die Anfertigung von Tarsianer, Narz und Nutria-Mänteln, Bibermänteln, das Entwerfen von Schnitten und Erstellen eines Schnittmusters. Ich hatte es so gut gelernt, dass ich am Schluss mit Auszeichnung für die Gesellenprüfung bestand. Auch der Vater hasste das Geschäft. Es war ein notwendiges Übel, aber er war selbstständig. Selbstständigkeit, das war wichtig. Das war der Rest eines herrschaftlichen Gefühls. Er hasste auch den Beruf, den er nicht richtig beherrschte. Den Zufallsberuf. Er hatte in einem Trümmergrundstück eine Felsnähmaschine gefunden. Aber dieses Finden war doch nicht nur ein bloßer Zufall. Seine Arbeit als Präparator vor dem Krieg lenkte sicherlich seine Aufmerksamkeit auf diese Nähmaschine. Es war die Zeit, als viele Dinge heimatlos geworden waren und aus dem ihnen bestimmten Zusammenhang herausgerissen, verloren in den Trümmern lagen.

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