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Uwe Timm Am Beispiel meines Bruders 4 bis S. 50

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Dem Kind, mir, erzählte er gern, nahm sich Zeit, war ein Weltdeuter. Am Beispiel von Historien gemäßen, die als Zigarettenbilder zum Thema Geschichte im Umlauf waren. Der alte Fritz unter einer Brücke sitzend, unter einem Windspiel die Schnauze zuhaltend, während über die Brücke die feindlichen Musaren reiten. Zeitlitz. In der Schlacht bei Rosbach wirft seine Tonpfeife zum Angriff in die Luft. Die Leiche Karls XII. von Schweden wird von Offizieren aus der Schlacht getragen. Dem Gerücht nach war er von seinen eigenen Soldaten erschossen worden. Geschichten und Anekdoten. Der Vater hatte sehr gute geschichtliche Kenntnisse, konnte die Episoden vor allem lebendig schildern. Aber dann, als das Nachfragen hätte beginnen können, hatten wir uns schon zerstritten. Als ich 16 war, begann ein hartnäckiger, immer gehässiger werdender Kampf zwischen uns. Eine enge rechthaberische Strenge von seiner Seite, ein verstocktes Schweigen von meiner Seite. Ausgelöst durch die hassenswerten Regularien des Alltags. Keine Jeans, kein Jazz, abends um 10 Uhr zu Hause sein. Das alles verboten, was verlangt, was geregelt war. Ein Regelsystem, das mir nicht einleuchtete und dessen Widersprüchlichkeit zu offensichtlich war. Nicht nur, weil ich älter geworden, ihn kritisch zu sehen anfing, sondern weil sich auch die Lebensumstände geändert hatten. Sein Auftreten entsprach nicht mehr den Jahren Anfang der 50er, in denen es ihm wirklich gut ging. Er es geschafft hatte. 1951-54 Das waren die 3-4 Jahre seines Lebens, in denen deckungsgleich war, was er darstellen wollte und was er war. Es war das Wirtschaftswunder bei uns zu Hause. Geschafft. Endlich geschafft. Die Wohnung eingerichtet. Ein repräsentatives Auto, Seegrün, Marke Adler. Vierzügig. Hotel von 1939. Mit der ersten Lenkradschaltung. Zu der Zeit gab es in Hamburg noch derart weniger Autos, dass die Verkehrspolizisten, die in ihren weißen Mänteln am Dammzoo standen, ihn grüßten, wenn er vorbei fuhr. Zu Weihnachten verschenkte er Zigarettenpackungen. Von der Mutter eingewickelt in Goldpapier, mit silberner Schleife und einem kleinen, hineingesteckten Tannenzweig. Er fuhr durch die Stadt zu den Kreuzungen, wo ein Polizist den Verkehr regelte, ehe kurz neben dem auf einem kleinen Podest stehenden Beamten und reichte ihm das Päckchen raus. Frohes Fest. Dafür winkten sie ihm das Jahr über durch und grüßten kurz mit der Hand am Mützenschirm. Der Vater mochte gern militärisch gegrüßt werden. In Coburg, wohin meine Mutter und ich evakuiert worden waren, kam er auf Fronturlaub und nahm mich mit in die Kaserne. Meine Mutter hatte mir silberne Achselstücke auf den Kindermantels genäht. Kurz vor der Kaserne ließ er mich vorangehen. Die Posten präsentierten das Gewehr und grinsten. Ich lernte die Hacken zusammenschlagen und einen Biener machen. Lustig hat das ausgesehen, erzählten mir Jahre später, als ich schon erwachsen war, Verwandte und Freunde. Richtig zackig hätte ich das gemacht. Das war einmal ich, der Fünfjährige in seinem grauen Mäntelchen, der die Hacken zusammenschlug und einen Biener machte. Der Geruch nach verschwitztem Leder, das war der Vater. Ein fremder Mann in Uniform liegt eines Tages im Bett meiner Mutter. Das ist die erste Erinnerung an den Vater. Am Boden stehen die Langschäfter, deren Lederstülpen umgeknickt sind. Auf dem Nachttisch liegt, eine genaue Erinnerung, eine Pistole mit Koppel. Ich sah ihn mit offenem Mund da liegen und schnarchen. Er war auf Urlaub gekommen. Riech ich an dem Armband meiner Uhr, ist er wieder da. Dieser Geruch nach verschwitztem Leder. Und er, der Vater, ist mir körperlich nah, wie durch keine der bildhaften Erinnerungen. Und dann, eines Tages, redeten die Erwachsenen auf mich ein. Verbot mir, was ich doch eben erst gelernt hatte, die Hacken zusammenschlagen und Heil Hitler zu sagen. Hast du? Auf keinen Fall! Das wurde dem Kind reise- und beschwörend gesagt. Es war der 23. April 1945. Die amerikanischen Soldaten waren in die Stadt eingerückt. Wer hatte mir das beigebracht, das Hacken zusammenschlagen? Nicht meine Mutter, mit der ich damals in Coburg lebte. Gegen das, was ich mit dem Militärverband, den Drill, das Krieg spielen und den Krieg, hatte die Mutter eine tiefe Abneigung. Nicht erst seit dem Tod des Sohnes. Und doch übte das Erscheinungsbild, die Uniformen, eine gewisse Faszination auf sie aus. Aber das Hacken zusammenschlagen wird sie mir nicht beigebracht haben. Vermutlich war es der Vater, der auf Urlaub gekommen war. Das waren all die anderen Militärs, die Nativfunktionäre, die bei Frau Schmidt, Witze des Kreisleiters, bei der wir wohnten, ein- und ausgingen. Der Russe, sagte Frau Schmidt, wenn der mal kommt, dann nehme ich mir einen Strick. Brief des Bruders an den Vater vom 11.08.1943. Wenn nur Russland bald kaputt wäre. Man müsste eben das Zehnfache an S-Divisionen haben, wie jetzt. Ich glaube es wäre dann schon soweit. Aber wir schaffen es eben noch nicht dieses Jahr. Bei mir ist immer noch alles beim Alten. Gesund bin ich, zu essen habe ich auch. Bloß die Sorgen an Zuhause bleiben dann. Täglich werden hier Fliegerangriffe der Engländer gemeldet. Wenn der Sachs bloß den Mist nachlassen würde. Das ist doch kein Krieg. Das ist der Mord an Frauen und Kinder. Und das ist nicht human. Hoffentlich bekomme ich bald Post von dir und Mutti. Aber schreibe der Mutti, sie soll keine Päckchen mehr schicken. Es wäre schade, wenn was verloren geht. Und ich habe genug. Soll lieber unser süßer, kleiner Uwe das Zeug essen. Nun lieber Papi, sende ich dir die besten Grüße und wünsche dir alles Gute. Dein Kamerad Karl Heinz Es sind keine Fotos, die gehängte Russen zeigen oder die Erschießungen von Zivilisten. Sondern ganz alltägliche, die sich auch in dem Fotowand des Vaters finden. Und zerstörte Häuser, Straßen, Städte zeigen. Ist das Scharkow? Der Bruder war an der Rückeroberung von Scharkow beteiligt, 1943. Zuerst wird man unterstellt, dass er an dem Mord an Zivilisten, Frauen und Kinder durch die SS nicht beteiligt war. Weil er bei einer Panzereinheit diente. Nun muss er doch mit den Opfern der Zivilbevölkerung konfrontiert worden sein. Den Hungernden, Obdachlosen, den durch Kampfhandlung vertriebenen, erfrorenen, getöteten. Von ihnen ist nicht die Rede. Vermutlich erschienen ihm dieses Leid, diese Zerstörung und Todesopfer normal. Also human. In einem Brief schreibt General Heinrichi, der 1941 ein Korps im Mittelabschnitt kommandiert, an seine Frau. Man empfindet die zerstörende Gewalt des Krieges erst, wenn man sich mit Einzelheiten oder den menschlichen Schicksalen beschäftigt. Da wird man später allerdings wohl Bücher drüber schreiben können. In den Städten ist die Bevölkerung so gut wie restlos verschwunden. In den Dörfern sind nur Frauen, Kinder und Greise da. Alles übrige schwimmt, losgerissen von seiner Heimat, im riesigen Russland umher. Liegt nach Gefangenaussagen zu menschlichen Klumpen geballt auf den Bahnhöfen und bettelt die Soldaten um ein Stückchen Brot an. Ich glaube, die Opfer, die der Krieg unter diesen Entwurzelten durch Krankheit bzw. Überanstrengung fordert, sind ähnlich groß wie die blutigen Verluste. Tagebucheintragung des Generals Heinrichi Dieter Beutelsbacher soll Partisanen nicht 100 Meter vor meinem Fenster aufhängen. Am Morgen kein schöner Anblick. Gretchenau-Norwo 23.11.1941 Nach Abschluss der Besprechung Gedenkfeier für unsere Gefallenen, denn heute ist Totentag. Darauf Spaziergang bis zum Toten Russen. Ein Zielpunkt der Wanderung, wie er nicht alltäglich ist. Dort liegt ein solcher unbeerdigt und gefroren seit Wochen im Schnee. Ich muss ihn durch die Einwohner bestatten lassen. Sie war alt, die Mutter schon 74 Jahre, als sie in einem Bus stieg mit einer Reisegesellschaft nach Russland fuhr. Eine Reise, die durch die DDR, Polen, Weißrussland nach Leningrad führte und von dort über Finnland und Schweden zurück. Sie hatte die ganz und gar unbegründete Hoffnung, bei dieser Gelegenheit einen Abstecher machen zu können, um das Grab meines Bruders zu besuchen. Oder doch zumindest in die Nähe des Grabs zu kommen. Das war ihr Wunsch. Einmal das Grab zu besuchen. Den Heldenfriedhof Znamjenka in der Ukraine. Die Grabnummer L302. Der Junge, der sich so sehnlich Stiefel wünschte, und zwar Schnürstiefel, die bis zum Knie reichten. Den Dienst in der Hitlerjugend mochte er nicht. Er musste mehrmals Straf exerzieren. Sein Finnleinführer ließ ihn auf der Straße zwischen den vorbeigehenden Passanten rocken. Er erzählte zu Hause nichts davon, bis ihn einmal ein Bekannter der Familie auf der Straße herumkichen sah und es dem Vater wissen ließ. Der beschwerte sich bei einem HJ-Gebietsführer. Daraufhin musste der Bruder nicht mehr nachexerzieren. Verträumt war er als Kind, als Jugendlicher. Abwesend und manchmal verschwand er eben, erzählte die Mutter, wie von Geisterhand geführt. Er schwieg und man wußte nicht, was in seinem Kopf vorging. Er war brav. Ein braves Kind, sagte sie. Ein stilles Kind, verträumt. Aber das sagte sie auch von mir und vielleicht stimmte es sogar aus ihrer Sicht. Meine Verschwiegenheit erhielt ihr das brave Bild von mir. Die Eltern vermuteten mich in der Jugendgruppe eines Hamburger Briefmarkenvereins. Während ich durch die Straße von St. Pauli lief, dem Viertel, das so ganz unheilig war mit seinen Spielcasinos, Bars und Bordellen. Es war die Gegenwelt zu daheim, dieser stillen, geordneten Wohnung, in der vor meinen Ohren nie und auch sonst wohl kaum über Sexualität gesprochen wurde. Ich lief durch die Talstraße und sah die Frauen in den Hauseingängen stehen. Die betrunkenen Matrosen. Ich sah die Strip-Tea-Lokale, die Bars, die Kneipen, den Silbersack. Das war eine Kneipe, von der mein Vater erzählte. Dort drehte sich der Abschaum der Menschheit. Schmuggler, Schieber, Rauschgesüchtige, Glücksspieler und die Käuflichen. Meine Neugierde auf den Abschaum war groß. Der Lachen, das Gelächter, das kreischende Lachen der Frauen, das aus dem Silbersack drang, war eine Verlockung so nah und doch unerreichbar. Als ich mich einmal länger an der Tür herumdrückte, kam der Türsteher und sagte, komm verschwinde kleiner. Diese Einblicke, die es zu erhaschen galt, Frauen, die unter ihren Mänteln nur Unterwäsche, Seidenstrümpfe, Strapse trugen und hin und wieder kam ein Mann vorbei, die Mäntel eröffneten. Kein Traum ist dem Tagebuch erwähnt, kein Wunsch, kein Geheimnis. Hatte der Bruder eine Freundin, war schon einmal mit einer Frau zusammen gewesen. Diese Sensation, den anderen Körper zu spüren, Nähe, eindringliche Nähe, den eigenen Körper im anderen zu spüren. Sich in ihm, also durch ihn zu spüren, um so die Auflösung seiner selbst im anderen zu erfahren. In dem Tagebuch ist ausschließlich vom Krieg die Rede, von der Vorbereitung auf das Töten und dessen Perfektionierung, durch Flammenwerfer, Minen, Zielschießen. Einmal wird ein Varieté erwähnt, einmal ein Theater, einmal ein Film, den er sich in einem Fronttheater angesehen haben muss. Am 13. Jahr 20, Brückenbau, unser Panzer kommt, Option 30, Kino, der große Schatten. Kein Kommentar. Hat ihm der Film gefallen? Um eine eigene Geschichte und um die Erfahrbarkeit eigener Gefühle betrogen, bleibt nur die Reduktion auf Haltung. Tapferkeit. In der kleinen Pappschachtel, die meiner Mutter nach seinem Tod zugeschickt wurde, findet sich das Foto einer Filmschauspielerin, analogisch rot. Ein sanftes, rundes Gesicht, braune Augen, dunkelbraunes Haar, volle Lippen, die seitlich Klüppchen abschließt. Der große Schatten.

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