Home Page
cover of Uwe Timm am Beispiel meines Bruders 9 bis S 75
Uwe Timm am Beispiel meines Bruders 9 bis S 75

Uwe Timm am Beispiel meines Bruders 9 bis S 75

SLOG1965SLOG1965

0 followers

00:00-09:59

Nothing to say, yet

Voice Overspeechclickingmusicinsidesmall room
3
Plays
0
Downloads
0
Shares

Audio hosting, extended storage and many more

AI Mastering

Transcription

Hannelore's life was marked by unfortunate events and unfulfilled desires. She faced hardships during her education and almost drowned during the war. She experienced multiple failed engagements and fell in love with a man similar to her father. Despite the disapproval of her family, she continued the relationship secretly. After her father forbade contact, she worked as a nanny and returned later to work in her father's business. She met a man named Efrahim, who courted her for years, but she never felt a strong connection. Eventually, she passed away after surgery, reflecting on her life and her father's care for her. Hannelore, groß und getrennt geschrieben, darauf bestand sie. Als könne diese besondere Schreibweise ihre Einmaligkeit beglauben. Sie hatte keine eigene Bestimmtheit ausbilden können, um ihre Wünsche verfolgen zu können. Nach der Schule machte sie eine Hauswirtschaftslehre, kam zum Arbeitsdienst und wäre beinahe ertrunken. Eine Führerin stieß sie in das tiefe Wasser eines Schwimmbeckens, was, es war Krieg, als harte Schockmethode zum Schwimmenlernen gedacht war. Sie schrie, schluckte Wasser, tauchte unter, kam wieder hoch, sank auf dem Beckengrund. Ein Bademeister rettete sie. »Ich gehöre zu denen,« sagte sie, »die einfach kein Glück im Leben haben.« Sie machte auch weiter, »kein Auflebens davon.« Stellte sie ihr lapidar fest, dieses »kein Glück im Leben.« Der erste Verlobte fällt als Infanterist in Russland. Sie lernt einen anderen Mann kennen, verlobt sich. Der Mann kommt 1944 in russische Gefangenschaft. Sie wartet bis 1958, sieben Jahre lang. Dann kommt die Nachricht, dass der Verlobte in einem russischen Lager gestorben sei. Sie verliebt sich in einen Mann, der dem Vater ähnlich sieht, groß, blond, gut aussehend. Ein Mann, der ein Juweliergeschäft gepachtet hat und dessen beste Kundin sie wird, bis der Vater ihn aus dem Haus wirft. Sie trifft ihn heimlich und beschenkt Verwandte mit Silberbesteck, Löffeln, Gabeln und Messern, diese aber mit einer Schleife versehen, damit die Freundschaft nicht zerschnitten wird. Der Mann bringt der Vater in Erfahrung, als noch zwei andere Verlobte. Das schreckt sie nicht. Sie lässt sich von ihm, dem Verkaufsgenie, eine Geschichte erzählen, die ihr verständlich macht, warum er die beiden anderen Verlobungen noch nicht aufgelöst hat. So viel Dämlichkeit, sagt der Vater. Aber sie war nicht dumm, sondern bis zur Blindheit verliebt. Sie wollte nicht sehen, sondern eben das. Nur fühlen, sich selbst spüren, Zuwendung, Zärtlichkeit, ein Ernst genommen werden, auch wenn das von Seiten des Mannes mit beruflichen Absichten verbunden war, dem Verkauf von Schmuck und Silberbesteck. Es war eine dieser alltäglichen Passionen, zugleich Protest, Auflehnung, Widerspruch, die das Kind staunend verfolgte und die weit wilder, dramatischer, radikaler verliefen, als heute vergleichbare Konstellationen, weil das, was sich gehörte und was sich nicht gehörte, noch gesellschaftlich verbindlicher war. Man lief keinem Mann hinterher. Was die Schwester tat, noch dazu im selben Viertel, das Juweliergeschäft nur eine Straße weitergelegen, war ein Skandal, eine Peinlichkeit für den Vater. Die Tochter lief mit einem Mann herum, von dem jeder wusste, dass der noch zwei andere Frauen hatte. Schließlich verbarb der Vater ihr, die immerhin schon 32 Jahre alt war, jeden Kontakt mit diesem Mann. Die Auftritte zwischen Vater und Tochter waren Geschrei, Heulen, Schluchzen, Türen schlagen, Gebrüll. Sie ging aus dem Haus und in eine Arztfamilie als Kinderfrau und Hausgehelfin. Nach zwei Jahren kam sie zurück. Der Juwelier hatte inzwischen eine andere Frau geheiratet, die Tochter eines Fabrikanten von Fischkonserven. Die Schwester kommt zurück und arbeitet als Pelznährin. Darin wird sie angelernt, im Geschäft des Vaters. Nach dem Tod des Vaters lernt sie einen persischen Juden kennen, dessen Familie einen Teppichhandel betreibt. Ein freundlicher Mann, der jahrelang um sie wirbt, den zu heiraten sie aber ablenkt. Sie mag ihn, aber auf eine distanzierte, ihn fernhaltende Weise. Sie geht mit ihm ins Kino, hin und wieder in die Operette und an Sonntagen, wenn die Sonne scheint, fahren sie in die Innenstadt, essen zu Mittag, gehen spazieren, gehen in ein Café und am späten Nachmittag bringt er sie nach Hause. So vergehen die Jahre. Zum Geburtstag, zu Weihnachten, schenkt er ihr Goldstücke mit dem Schabildnis, kleine und große. Er schenkt ihr orientalische Stickereien und Messingteller und Messingprügel. Die Mutter findet das Zeug grässlich. Efrahim heißt der Mann, der sowohl der Schwester, wie der Mutter mit einer altertümlichen Höflichkeit, ja, Ehrfurcht begegnet. Einmal geht die Schwester mit zu einer Feier in die Synagoge und einmal besucht sie die Familie. Auf meine Frage, warum sie nicht mit dem Mann zusammenzieht, sagt sie, der gefällt mir eben nicht so, dass ich mit ihm zusammen wohnen kann. An einem Novembertag liest die Schwester morgens in der Zeitung von dem nächtlichen Sturm über Hamburg, dem Hochwasser, den Unfällen auf der Straße. In der Osterstraße Eimsbüttel stieß ein Wagen mit dem 50-jährigen Heckmatt H. aus New York am Steuer mit einer Taxi zusammen, die von Detlef L. 31 aus Norderstedt gelenkt wurde. Der Beifahrer des Amerikaners, der 62 Jahre alte Efrahim H. aus Eimsbüttel, erlag noch an der Unfallstelle seinen schweren Verletzungen. Den Tagesausschnitt fand ich in dem kleinen Koffer, einem Kinderkoffer, in dem sie ihre persönlichen Dokumente verwahrte, ein paar Briefe, eine Verlobungsanzeige, Todesanzeigen, ein paar Fotos, darunter eines ihres Verlobten, den ich nie kennengelernt habe. Es hätte alles anders kommen können, sagte sie, doch sie sah schon früh keine Möglichkeit einer Korrektur. So lebte sie, bis sie krank wurde und operiert werden musste. Sie war gerade 68 Jahre alt geworden. Sie bekam einen künstlichen Darmausgang. Anfangs war sie voller Scham und Angst, mochte nicht reisen. Dann, nach einigen Monaten, kam sie auf Besuch und konnte vor den Kindern Witze darüber machen, wenn es bei Tisch deutlich höher Luft abhieß. Ich kann nur noch mit dem kleinen Büdel reisen, kam sie von der Toilette, trug sie ein wenig verlegen, die Säckchen in Papier eingeschlagen hinaus und hinunter zur Mülltonne. Einmal, als wir allein waren, weinte sie und sagte, es ist grässlich. Ich fuhr von Berlin nach Hamburg. Ich saß im Speisewagen und blickte hinaus, in die mir so vertraute Landschaft, Wiesen, Knicks, kleine Gehölze, Störche, in einer versumpften Wiese, solitäre Eichen, schwarz-weiß gecheckte Kühe, Backsteinhäuser, der Sachsenwald, die ersten einstückigen Häuser mit Blautannen und Wäschespinnen in den Gärten, der Hauptbahnhof. Ich fuhr nach Eimsbüttel, ins Elim, das Krankenhaus, in dem ich geboren worden und die Mutter gestorben war. Elim, eine Oase der Rast. Es war dasselbe Sechsbettzimmer, in dem schon die Mutter gelegen hatte. Die Fenster standen offen, sacht bewegten sich die Gardinen. Es war ein ungewöhnlich heißer Sommertag. Neben dem Bett der Schwester stand ein farbares Metallgestell, an dem der Tropf hing. In der blau angelaufenen Armbeuge steckte die Kanüle. Dünn war die Schwester geworden, schlaff ging das Fleisch an ihren Armen. Das Haar, das sie sich in einem leicht hellbraunen Ton färben ließ, war zerzaust und gut zwei Zentimeter grau nachgewachsen. Das Krankenhaushemd war verrutscht und gab etwas von der flach auf den Rippen liegenden Brust frei. Der Mund war greisenhaft eingefallen. Später sah ich Legebiss in der Schublade des Nachttisches liegen. Zuvor war ich in ihrer Wohnung gewesen. Sorgfältig hatte sie alles aufgeräumt und geputzt. Der Eisschrank war abgetaucht. Eine zahlende Elektrizitätsrechnung lag auf dem Tisch im Korridor. Das Bett hatte sie für mich bezogen und so hergerichtet, wie es früher die Mutter getan hatte. Dieses zu kurze Bett, in dem ich mit leicht angezogenen Beinen schlafen musste. Die Rechnung habe ich bezahlt. Unruhig war sie. Die Hand strich immer wieder über das Betttuch. Zuhause ist alles in Ordnung. Du kannst ganz ruhig sein. Aber sie wollte reden. Sie wollte erzählen. Von sich, vom Vater, von mir. Wie war ich? Solange man diese Frage noch beantwortet bekommen kann, ist man immer noch ein Kind. Anders. Wie anders? Einfach anders. Wie? Sie dachte nach und nach einiger Zeit sagte sie, du hast Löwen im Gebüsch gesehen. Und dann hast du mit dem Stock rumgefuchtelt. Alle haben gelacht. Nur der Vater nicht. Der hat den Löwen mit dir gesucht. Sie dachte nach und ihr war anzusehen, dass nicht nur das Sprechen ihr Mühe bereitete, sondern auch das Nachdenken, das Erinnern. Und der Vater war immer so fürsorglich, sagte sie. Der Vater hätte diese böse Operation verhindert. Aber es musste sein, sagte ich. Er hätte es nicht zugelassen. Er hat sich immer um mich gekümmert, sagte sie. Sie wollte es so sehen. Und ich sagte, ja und vielleicht.